Vogelzug - Warum bleiben immer mehr Vögel im Winter hier?

Veröffentlicht 15 Feb 2022
Aktualisiert 09 Oct 2024

Ganz anders aber im Oktober 2022, denn da durften wir massiven Kranichzug im Raum Marburg bei bis zu 26°C erleben, dennoch möchte ich immer mit ihnen in südliche Gefilde fliegen. Kraniche sind sehr treue Vögel, die nicht nur in der Balzzeit, sondern auch während des Zuges und im Winterquartier als Paar unzertrennlich sind. An klaren Tagen mit nördlichen bis östlichen Winden ziehen sie in endlosen Ketten über den Marburger Raum.

Manchmal zählen wir an einem einzigen Tag bis zu 75.000 dieser großen Vögel, deren klagende Rufe all die Sehnsucht nach Ferne, Wärme, Treue und Liebe auszudrücken scheinen. Deshalb sind sie nicht nur für mich der Höhepunkt des Vogelzuges.

Ziehende Vögel haben seit jeher die Menschen begeistert, wenn sie tief beeindruckt und voller Sehnsüchte hinter ihnen herschauten. Durch ihr Erscheinen am Himmel kündigten sie im Herbst den nahenden Winter und im Frühjahr den kommenden Frühling und Sommer an.

So wundert es nicht, dass die Menschen mit den Vögeln die Jahreszeiten spürten und viel über Zugvögel gedichtet, gesungen und geschrieben wurde. Auch heute noch sind viele Menschen vom Vogelzug fasziniert, sei es aus rein emotional-ästhetischen oder aus wissenschaftlichen Gründen.

Ziehende Vögel können überall auf der Erde beobachtet werden, besonders aber an den Nadelöhren wie Falsterbo in Schweden, Gibraltar in Südspanien, der Straße von Messina im Südwesten Italiens, dem Bosporus in der Türkei, Suez in Ägypten oder Eilat im Süden Israels. Aber nicht nur an diesen Orten können ziehende Vögel beobachtet werden, sondern vor allem auch in Nord- und Mittelamerika, Asien und Australien.

Als Vogel will ich mit Dir fliegen

Hoch über Wolken weiß und grau

Der Wind uns würde sanfte wiegen

Wenn ich Dir in Deine Augen schau

 

Wie graue Kraniche in weiten Bögen

Würden wir rasch nach Süden streben

Und wechselnde Muster am Himmel weben

Ich möchte mit Dir für immer leben

Der Zug, welcher die Vögel von ihren Brutplätzen in die Winterquartiere führt, wird als Wegzug oder Herbstzug bezeichnet. Dieser beginnt in unseren Breiten bereits schon Ende Mai/Anfang Juni, wenn die ersten weiblichen Waldwasserläufer an Fluss-, Bach- und Seeufern, an Baggerteichen und in Kiesgruben erscheinen, weil die Männchen die Führung der Jungen in den Brutgebieten übernehmen. 

 

Nach den erwachsenen Weibchen folgen wenige Wochen später die adulten Männchen und ab Mitte/Ende Juli erscheinen die ersten Jungvögel. Auch Kiebitze setzen mit ihrem Zwischenzug, der auch als Mauserzug bezeichnet wird, schon Anfang Juni ein, wenn sie aus östlichen und nordöstlichen Breiten langsam nach Südwesten wandern und bereits im Juli an manchen Stellen (meist Auen und ausgedehnte Ebenen, Börden und die Küstenregionen) in großen Schwärmen auftreten.

 

Wenn wir den faszinierenden Vogelzug erleben wollen und keine Zeit haben, beispielsweise an den Bosporus, nach Falsterbo, ins friesische Wattenmeer oder nach Helgoland zu fahren, so empfiehlt es sich, einfach vor der Haustür mit der Beobachtung zu beginnen. Günstig ist es immer, wenn man sich an einem exponierten Punkt mit guter Rundumsicht bereits kurz vor Sonnenaufgang postiert und den Himmel nach ziehenden Vögeln mit Ferngläsern und Spektiven absucht. Dabei helfen einem Ferngläser mit großem Sehfeld oder Weitwinkel-Okulare an den Spektiven. Gruppen von Menschen können dabei immer mehr sehen als Einzelpersonen.

Auf vorgefertigten Protokollbögen, auf denen die Vogelarten, deren Anzahl, die Wetterverhältnisse, Zugrichtung, Datum, Uhrzeit und die Beobachter eingetragen werden, erfolgt die Erstellung von Stunden- und Tagesprotokollen. Daraus ergeben sich dann die Gesamtzahlen für die Arten und Individuen pro Tag. Für den sichtbaren Zug der Vögel günstige Tage sind Wetterlagen mit geringen Luftdruckgegensätzen, lockerer Bewölkung, Windstille oder schwachen bis mäßigen Rücken- oder Gegenwinden. Im Herbst herrschen bei uns meist Südwestwinde vor, welche die Vögel zwingen, niedriger zu fliegen, was wir aber besonders mögen, weil sie dann besser gesehen und erfasst werden können.

Windstille und leichte bis mäßige Gegenwinde führen zu sehr hoch stattfindendem Vogelzug, der oft auch von hoch gelegenen Stellen wenig oder gar nicht mehr wahrgenommen werden kann. Die Beobachtungen des Wegzuges sollten Mitte/Ende Juli beginnen, wenn die Lachmöwen mit den ersten Jungvögeln sowie erste Mauersegler und junge Rauchschwalben schon in großen Gruppen nach Südwesten ziehen, denn die Hauptzugrichtung führt im Herbst von Nordosten nach Südwesten.

Bereits zu dieser Zeit kann man an Tagen mit guten Aufwinden erste wegziehende Schwarzstörche, Fischadler oder Wespenbussarde sehen. Ende Juli/Anfang August konzentrieren sich Mauersegler und junge Schwalben in großen Zahlen, so dass es sehr schwer ist, diese überhaupt noch zu zählen. In solchen Fällen kann man nur noch schätzen, was aber geübt werden kann und im Laufe der Jahre zu immer größerer Genauigkeit führt. Erfahrene Vogelkenner können bestimmte Vogelarten noch auf Hunderte von Metern oder auf Entfernungen von einem bis mehreren Kilometern bis auf Artniveau bestimmen.

Die frühen Morgenstunden des Monats August sind sehr gut geeignet, um ziehende Baum- und Brachpieper zu beobachten. Wird es am Tag immer wärmer, folgen zunehmend Fischadler und Wespenbussarde. Letztere erreichen ihren Zughöhepunkt Ende August/Anfang September. Das ist dann auch die Zeit des Hauptdurchzugs von Mehlschwalben und Schafstelzen und auch der Baumpieper erreicht sein Zugmaximum. Während der Sommermonate können in den Küstenregionen Deutschlands schon Tausende von Watvögeln beobachtet werden, die leider im Binnenland in deutlich geringerer Zahl auftreten. Bereits Mitte/Ende September erscheinen die ersten Buchfinken, deren höchste Zahlen Ende Anfang bis Mitte Oktober beobachtet werden können.

 

Fast immer ist der Buchfink der häufigste Zugvogel, es sei denn, dass Bergfinken in so genannten Invasionen auftreten und dabei Millionenschwärme bilden können. Buchfinken können aber auch an manchen Tagen so häufig sein, dass ihre Zugtrupps über den ganzen Himmel reichen. Der Hauptmonat des herbstlichen Vogelzuges ist der Oktober, wenn vor allem Ringeltauben, Feldlerchen, Wiesenpieper, Wacholder- und Rotdrosseln in großen Zahlen durchziehen. In der norddeutschen Tiefebene oder an den Küsten erscheinen dann große Zahlen von Bläss- und Saatgänsen und in der Rügen-Bock-Region Mecklenburg-Vorpommerns konzentrieren sich Kraniche in beachtlichen Mengen. Diese Kraniche und solche, die in Brandenburg oder Sachsen-Anhalt rasten, überfliegen dann in schier endlosen Wellen den hessischen Raum. 

Im November ebbt der Vogelzug mehr und mehr ab, aber manchmal hören die Bänder ziehender Kiebitze oder Bergfinken am Himmel gar nicht mehr auf. Nach dem Ende des herbstlichen Wegzuges können Vögel bei Kälte- und Schnee-Einbrüchen immer noch aufbrechen, um weiter nach Südwesten zu fliegen. Dieses Phänomen wird als Winter-, Schnee- oder Kälteflucht bezeichnet. Bei hohen Schneelagen in Nord- und Ostdeutschland und weitgehend schneefreien Gegenden weiter südlich, können bei uns große Zahlen von Singschwänen, Gänsen, Raufußbussarden, Kornweihen und Ohrenlerchen einfliegen. Auch die sonst eher in den Küstenregionen überwinternden Sumpfohreulen, Berghänflinge, Schnee- und Spornammern können dann auch im Binnenland vorkommen. 

Im Zuge des globalen Klimawandels hat sich auch bei unseren Zugvögeln einiges verändert, denn sie kommen im Frühjahr deutlich früher zurück und ziehen im Herbst später ab. Das hat dazu geführt, dass wir bei Mauerseglern erstmals im Jahr 2003 Zweitbruten und beim Kuckuck erstmals im Jahr 2018 eine zweite Brutperiode einiger Vögel registrierten. Mehl- und Rauchschwalben brüten inzwischen bis zu dreimal erfolgreich im Jahr, Amseln, Hausrotschwänze und Feldsperlinge gar bis zu viermal.

Hinzu kommt, dass immer mehr Vogelarten in Mitteleuropa überwintern. Dazu zählen beispielsweise Graugans, Haubentaucher, Kormoran, Silberreiher, Weißstorch, Kranich, Wasserralle, Kiebitz, Waldschnepfe, Bekassine, Waldwasserläufer, Ringel- und Hohltaube, Dohle, Saatkrähe, Feld- und Heidelerche, Zilpzalp, Mönchsgrasmücke, Sommergoldhähnchen, Star, Singdrossel, Schwarz­kehlchen, Hausrotschwanz, Heckenbraunelle, Wiesenpieper, Bachstelze, Buchfink, Girlitz, Stieglitz, Bluthänfling und Rohrammer.  

 

Vögel sind sehr anpassungsfähig und meistern daher viele Veränderungen. Wir sollten das Ganze langfristig beobachten, denn es gibt immer wieder unvorhersehbare Ereignisse, wobei ich selbst nicht zu den Pessimisten zähle, sondern mich an den realen Gegebenheiten orientiere. Für mich ist der Naturschutz am wichtigsten, denn nur mit dem bedingungslosen Einsatz für mehr Biodiversität und wirklichen Artenschutz, können wir auch den Klimaschutz meistern.

 

Eines ist jedoch sicher: Selbst wenn wir alles über den geheimnisvollen Vogelzug und zunehmende Überwinterungen wüssten, so werden Zugvögel nichts von ihrer Faszination verlieren!